Rivalitäten
In der Kaiserhofstraße gab es zwei miteinander konkurrierende Spengler- und Installateurmeister: in Nummer 7 Konrad Bämpfer und in unserem Haus den rothaarigen Otto Reiter. Konrad Bämpfer fuhr mit dem Fahrrad zu seiner Kundschaft und trug schon lange vor 1933 die braune Uniform. Sein Konkurrent Otto Reiter war ein passionierter Motorradfahrer und kein Nazi.
Eines Tages hatte Otto Reiter eine Idee, die ihm beträchtlichen Gewinn und noch andere Vorteile einbrachte. Er konstruierte eine Schaufensterberieselungsanlage, und hatte bald alle Hände voll zu tun, um den vielen Bestellungen aus den Blumenläden des ganzen Stadtbezirks nachzukommen.
Diese Erfindung brachte ihm gegenüber der Konkurrenz von Nummer 7 einen großen Vorsprung, und er verzichtete künftig auf den Reparaturkleinkram im Installateuralltag, das Auswechseln kaputter Wasserhahndichtungen und Säubern verstopfter Klosetts, das überließ er dem andern. Außerdem konnte er sich ein paar kleinere Maschinen anschaffen, was ihm später, während des Krieges, sehr nützlich war.
Abgesehen von seiner schweren Seitenwagenmaschine, an der er in jeder freien Minute herumbastelte, liebte Otto Reiter rothaarige Frauen, rothaarig wie er selbst. Drei seiner Freundinnen habe ich gekannt: Die hagere Verkäuferin vom Wurst-Emmerich, die, wenn ich statt »für zwanzig Pfennig Wurststückchen« ausnahmsweise einmal ein Viertelpfund Streichwurst holte, sich fast in den Finger schnitt; so kleinlich genau wog sie ab. Er stand nach Feierabend stets am Hinterausgang vom Wurst-Emmerich in der Kleinen Bockenheimer Straße, wo er sie mit seinem Motorrad abholte. Dann die farblose Frau eines Weißbinders, in dessen Wohnung ihn eines Tages, so erzählte man sich, der Ehemann in flagranti erwischte. Die dritte war Käthe, etwa dreißig Jahre alt, mit üppigen Formen, bei deren Beschreibung man am besten die Hände zu Hilfe nimmt und die sich angenehm in mein Gedächtnis einprägte. Doch das hat eine Vorgeschichte.
Einmal, im Frühjahr 1939, fing mich Otto Reiter im Hof ab und rief mich in seine Werkstatt. Er schloß die schwere Tür hinter sich und erzählte mir, am Vormittag sei Konrad Bämpfer, der ihn sonst nur selten besuchte, in die Werkstatt gekommen, um sich im Auftrag der Ortsgruppe der Partei, wo er eine führende Rolle spielte, nach unserer Familie zu erkundigen. Bämpfer habe ihn gefragt, was er über uns wisse, ob wir denn wirklich Juden seien, wie gemunkelt werde, und ob man nicht noch weitere Erkundigungen über uns im Haus einholen könne. Er habe Bämpfer erwidert, das könne unmöglich stimmen, es hätte sich sonst längst im Haus herumgesprochen. Wir würden auch keinesfalls den Eindruck von Juden machen. Dieses Gerede gehe wahrscheinlich auf eine Denunziation zurück. Er könne uns nur das beste Zeugnis ausstellen, wir seien ordentliche Mitbewohner und Volksgenossen. Und dann sagte mir Otto Reiter - mit einem Tonfall in der Stimme, aus dem man, wenn man wollte, heraushören konnte, daß er es ja doch besser wisse - es gehe ihn nichts an, wer wir seien und wo wir herkämen, man rede eben so vieles, aber er rate mir und meinen Eltern gut, uns vor Bämpfer in acht zu nehmen. In großer Unruhe verließ ich seine Werkstatt.
Frau Walter aus dem zweiten Stock fragte ungefähr zur gleichen Zeit Frau Volk, die einen Stock unter ihr im Vorderhaus wohnte, warum man ausgerechnet unsere Familie unbehelligt lasse, wo man schon so viele Juden umgesiedelt habe. Wir seien doch Juden und zudem noch Ausländer, und Herr Senger könne nicht einmal richtig deutsch sprechen. Frau Volk wußte über unsere jüdische Abstammung Bescheid. Doch sie tat ahnungslos und erwiderte, Frau Walter könne doch in diesen Zeiten nicht so gefährliche Dinge über uns verbreiten. Frau Senger habe ihr selbst die polizeilichen Unterlagen gezeigt, aus denen einwandfrei hervorgehe, daß wir keine Juden seien und eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland hätten.
Drei Jahre später, im Kriegsjahr 1942, wurde ich in einer ganz anderen Weise an das Gespräch mit Spenglermeister Reiter und seine Warnung vor Bämpfer erinnert, und da war es nicht weniger gefährlich als damals. Das hing mit dem Erscheinen von Käthe in unserem Haus zusammen. Käthe Fröhlich war Blumenbinderin, bis Otto Reiter sie in einem Blumenladen, in dem er seine Berieselungsanlage montierte, kennenlernte. Zu der Zeit hatte er noch eine zusätzliche »kriegswichtige« Serienarbeit angenommen. Dadurch war es ihm möglich, für Käthe eine Dienstverpflichtung in seine Werkstatt zu erreichen.
Ich merkte, daß Käthe, wenn ich einmal in die Werkstatt kam, ungemein freundlich zu mir war, und darum ging ich öfters hin. Dem Spenglermeister, das spürte ich, war das nicht recht, denn er war sehr eifersüchtig. So paßte ich die Zeit ab, wenn er mit seiner »Horex« davongefahren war. Ich unterhielt mich mit Käthe, die bei der Arbeit einen strammsitzenden einteiligen Monteuranzug trug, half ihr ein wenig bei der Arbeit, und sie richtete es dabei so ein, daß wir häufig in Tuchfühlung kamen. Da wurde auch ich mutiger, faßte sie, wenn sich die Gelegenheit bot, um die Taille und drückte mich ein wenig an sie, und sie lachte und drückte mit der Hüfte ebenfalls gegen mich. Mehr wagten wir nicht, denn wir mußten damit rechnen, daß jeden Augenblick Otto Reiter zurückkommen konnte. Schon in der abschüssigen Kaiserhofstraße stellte er nämlich den Motor ab und rollte fast lautlos in die Einfahrt und nach hinten in den Hof, so daß man nie sicher vor ihm war.
Bald stellte ich fest, daß Käthe mit jedem schäkerte, der in die Werkstatt kam, und großen Spaß daran fand, wenn auch andere sie an ihren Rundungen anfaßten. Das hinderte mich aber nicht, sie immer wieder aufzusuchen. Es konnte nicht ausbleiben, daß Otto Reiter uns eines Tages erwischte. Und da sagte er mir, betont langsam und mit einer scheinbar ruhigen Stimme, ich solle es nicht auf die Spitze treiben; ob es mir denn gänzlich aus dem Kopf gekommen sei, wie sehr sich Bämpfer einmal für mich interessiert hätte.
Es war ein Glück, daß Käthe, die danebenstand, keine Erklärung für diese Anspielung verlangte. Ich verschwand schnell aus der Werkstatt und betrat sie nie mehr, solange Käthe Fröhlich da arbeitete.
Obwohl eine tödliche Drohung in dieser Äußerung lag, war Otto Reiter bestimmt kein Denunziant. Es wäre ihm ein leichtes gewesen, unsere Familie der Partei oder der Gestapo zu melden, denn an Verdachtsgründen über unsere Abstammung mangelte es ihm nicht.
Das Ende der Geschichte ist schnell erzählt. Käthes Wohnung wurde von Fliegerbomben zerstört. Da quartierte Otto - mit der Machtfülle seiner kriegswichtigen Produktion ausgestattet - Käthe in die gerade leergewordene Wohnung des von der Gestapo abgeholten Häusermaklers Oppenheimer in Nummer 19 ein. Er trennte sich sogar von seiner Familie und zog für einige Zeit zu ihr. Aber die Romanze der beiden währte nicht lange. Käthe nahm sich einen Freund, der zwanzig Jahre jünger als Otto und schwarzhaarig war. Daraufhin kehrte der Spenglermeister in die Kaiserhofstraße Nummer 12 zurück. Käthe verließ die Werkstatt und band künftig wieder Blumen hinter der von Otto montierten Berieselungsanlage, und er hatte in den folgenden Wochen mehr Zeit für seine »Horex«.